Aber nicht zu schnell zu viel
Die aktuelle globale Krise hat einen massiven Einfluss auf die gesamte Weltwirtschaft und damit auch auf die Lebensversicherungsbranche. Rechnete der GDV noch Ende Januar mit einem Beitragswachstum von 1-2% für das Lebensversicherungsgeschäft, erwartet der GDV im März nur noch einen „geringen Zuwachs von unter einem Prozent“. Die deutsche Versicherungswirtschaft muss sich bis auf weiteres eher an einem Rezessionsszenario orientieren, welches das technische Geschäft, den Versicherungsbetrieb und das Kapitalanlagegeschäft weiter unter Druck hält.
Die Engpässe insbesondere bei Öl und Gas, haben neben einer massiven Erhöhung der Geldmenge durch die Coronakrise, der Inflationsrate zu neuen Rekordständen verholfen. Darauf haben die US-Notenbank FED und die Europäische Zentralbank EZB reagiert. Die FED hat den Leitzins auf aktuell 1,5-1,75% angehoben. Zum 21. Juli will die EZB ihren Leitzins auf 0,25% anheben, weitere Zinserhöhungen werden noch in diesem Jahr erwartet. Nach Äußerungen der EZB-Präsidentin Christine Lagarde sind dies nur die ersten Schritte einer Reise hin zu einer Normalisierung der Geldpolitik, so dass in den Finanzmärkten von einer „Zeitenwende“ gesprochen wird.
Die Zinserhöhungen führen zu massiven Wertänderungen
Am Markt sieht man folgende Änderungen, die sich bei weiteren Zinserhöhungen noch verstärken dürften:
- Im ersten Halbjahr 2022 klettert der 10jährige Euro Swap Satz von 0,3% auf 2,4%, der 10jährige USD Swap Satz im gleichen Zeitraum von 1,6% auf 3,2%.
- Bei einem Anstieg des risikolosen Zinses verlieren Aktien an Wert, da ein sicherer Ertrag einer riskanten Anlage vorgezogen wird. Zusätzlich schmälern die gestiegenen Rohstoffpreise die Gewinne von Unternehmen. Die aktuellen Unsicherheiten erhöhen die Volatilität und das Aktienanlagerisiko. So ist zum Beispiel der DAX im ersten Halbjahr 2022 um ca. 3000 Punkte und damit um fast 18% gefallen.
- Für festverzinsliche Wertpapiere gilt allgemein, dass ein Zinsanstieg zu einem Preisverfall von bestehenden Assets führt, der umso stärker ausfällt, je länger deren Laufzeit ist. Ein Zinsanstieg von 1% entspricht zum Beispiel einem Preisverfall von ca. 10% bei 10jährigen festverzinslichen Anleihen.
- Vor allem sprunghaft steigende Zinsen und Öl- und Gaspreise verteuern Kredite und Rohstoffe für Unternehmen, so dass diese verstärkt in finanzielle Schwierigkeiten geraten können. So muss bei Unternehmensanleihen verstärkt mit Zahlungsausfällen gerechnet werden.
- Baufinanzierungszinsen sind angestiegen, Erst- und Anschlussfinanzierungen von Immobilien sind damit massiv teurer geworden. Es bleibt abzuwarten, ob dies zu einer Entwertung von Immobilien führt, die 2021 laut der Deutschen Bundesbank in Deutschland 15% bis 40% überbewertet waren.
Diese massiven Wertänderungen der verschiedenen Assetklassen haben starke Auswirkung auf die Lebensversicherungen, die aufgrund ihres Geschäftsmodells und laut GDV mit rund 1 Billionen Euro Kapitalanlagen in 2020 Großanleger am Markt sind.
Positiv wirken sich die gestiegenen Zinsen vor allem auf die Solvenzbedeckungen und auf die Zinszusatzreservenbildung aus, wie die deutsche Aktuarvereinigung in einer Pressemitteilung Ende Mai 2022 mitteilt.
Sind höhere Zinsen uneingeschränkt positiv?
Lebensversicherer legen bevorzugt in langlaufende festverzinsliche Wertpapiere an (2019 Anteil 85%, durchschnittliche Laufzeit 9,6 Jahre). Daher müssen sie bei dem momentanen Festzinsanstieg von ca. 2% einen Marktrückgang von ca. 20% in dieser Assetklasse verbuchen. Die Verluste werden zwar nicht realisiert, da Lebensversicherer zur Bedeckung ihrer Verpflichtungen die Positionen halten. Der Marktwertverlust muss aber in der Solvenzbilanz (Marktwertbewertung) als auch in der HGB-Bilanz aufgrund des Niederstwertprinzips bei anhaltendem Trend ausgewiesen werden. Ein Abbau der Zinszusatzreserve auf der Passivseite kann dies nur teilweise ausgleichen, da durch die Ermittlung des Referenzzins als Mittelwert der letzten 10 Jahre diese nur zeitverzögert abgebaut wird. So entstehen stille Lasten (geringerer Marktwert gegenüber Buchwert) oder Verluste in der HGB Bilanz. Assekurata schätzt, dass bis Ende Juni 2022 schon ca. 40 Milliarden Euro an stillen Lasten entstanden sind.
Abschätzung der Effekte durch ein Stresstestszenario der EIOPA
Im sogenannten „Yield Curve Up – Szenario“ (kurz YCU) wurde von der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen (EIOPA) 2018 untersucht, wie sich ein kombinierter abrupter und beträchtlicher Zins- und Inflationsanstieg mit daraufhin reaktiv erhöhter Stornorate auf das nach Solvency II berechnete Solvenzkapital (SCR) für das Bilanzjahr 2017 der Versicherungsgruppen auswirkt.
Dieses Inflations- und Zinsszenario ähnelt der Situation, die wir heute am Markt erleben:
- Das Kiel Institut für Weltwirtschaft prognostiziert für Deutschland eine Inflationsrate von 7,4% in 2022 insgesamt und einen Rückgang auf 4,2% in 2023, wenn die kurzfristigen Lieferengpässe und hohen Rohölpreise wieder zurück gehen sollten. Geht man von einer erwarteten eingerechneten Inflation von 2% aus, ist der Inflationsanstieg 2022 mehr als doppelt so hoch als im Stressszenario angenommen. 2023 liegt der Anstieg in etwa auf dem angenommenen Niveau von 2,24%.
- Die Zinssätze sind seit Jahresbeginn etwa doppelt so stark angestiegen wie im Szenario modelliert.
- Ein Anstieg der Stornoquoten kann im Moment am Markt noch nicht beobachtet werden, jedoch sind erhöhte Stornoraten in der Lebensversicherung wahrscheinlich, wenn die am Markt erhältlichen Festgeldzinsen anderer Produkte bessere Renditen versprechen als die in Niedrigzinszeiten gekauften Produkte der Versicherer. Zudem kann das momentane Rezessionsumfeld dazu führen, dass Versicherungsnehmer vermehrt in finanzielle Schwierigkeiten geraten und verstärkt die Sparvermögen ihrer Lebensversicherungen liquidieren.
- Im Vergleich zu 2017 hat sich zwar der durchschnittliche SCR deutscher Lebensversicherer von 382% auf 450% Ende 2021 etwas erhöht, ansonsten ist die Ausgangslage der Lebensversicherungsindustrie aber mit der von 2017 vergleichbar.
Vor dem YCU-Stressszenario hatten die betrachteten europäischen Versicherungsgruppen ein SCR von 202,4%. Nach Anwendung des Szenarios sank der SCR auf 145,2% unter Anwendung der bis 2032 geltenden Solvency II Übergangsregelungen. Diese Veränderung ist hauptsächlich auf einen Rückgang von anzurechnenden Eigenmitteln (-29,9%) durch Wertverlust der Aktiva zurückzuführen. Die versicherungstechnischen Rückstellungen auf der Passivseite verringern sich ebenfalls erheblich (Rückgang von -14,5% in der Lebensversicherung durch höhere Diskontierung und Portfolioverringerung durch Storno). Insgesamt überwiegt jedoch der Rückgang der Eigenmittel auf der Aktivseite.
Verluste aufgrund steigender Zinsen möglich
Lebensversicherer können daher aufgrund ihrer langdauernden Geldanlagen und deren Entwertung bei einem Zinsanstiegen in Schwierigkeiten geraten – nicht trotz, sondern wegen steigender Zinsen. Insgesamt lässt sich sagen, dass leichte und langsam steigende Festgeldzinsen durch höhere Abzinsungseffekte und erleichtere Bedeckung von Garantiezinsen Lebensversicherungen entlastet. Bei abruptem und starkem Zinsanstieg sind Finanzanlagen, Vertrags- und Garantiegestaltung momentan jedoch zu unflexibel, um Assets kurzfristig verlustarm umschichten zu können. Wenn dann zum Beispiel zur Bedienung von Rückkaufswerten bei erhöhtem Storno, Vermögenswerte zu verminderten Marktwerten veräußert werden müssen, kann es zu existenzbedrohlichen Verlusten kommen. (Mehr Informationen finden Sie in einer Studie der Deutschen Bundesbank hier.)
Wie können Versicherer auf diese Situation reagieren?
In unserem nächsten Blogartikel wollen wir unseren Blick auch über den großen Ozean hinaus Richtung USA richten. Dieser wird etwaige Unterschiede zwischen Europa und Amerika aufzeigen und Erfahrungswerte für Deutschland sammeln. Denn Versicherer müssen sich ihrem Schicksal nicht ergeben, sondern können auf diese Situation reagieren.
An diesem Blogartikel haben neben Dr. Klaus Hermetschläger und Christine Masuch auch André Schlieker, Global Insurance Research Lead, und Sven Maaß, Senior Principal Versicherungen, mitgewirkt. Die Autoren bedanken sich bei ihnen für ihre Unterstützung.